Irak, 1902-1913/1989-1990/seit 2000
Durch die Gründung der Deutschen Orient-Gesellschaft verlieh das spät geeinte Deutsche Reich seinem Willen Ausdruck, im Konzert der europäischen Nationen an der Erschließung der Kulturen des Alten Orients teilzuhaben, und 1898 begannen die Ausgrabungen in Babylon.
Wenige Jahre später eröffnete sich der jungen DOG durch Geldmittel, die die Preussische Staatsregierung zur Verfügung gestellt hatte, sowie nicht zuletzt dank der regelmäßigen «außerordentlichen Beihülfe aus dem Dispositionsfonds Seiner Majestät des Kaisers und Königs» Wilhelms IL, die Möglichkeit, neben Babylon eine zweite große altorientalische Ruine zu erforschen. Es lag nahe, es den Franzosen und Engländern gleichzutun und sich ebenfalls einer bedeutenden assyrischen Stadt zuzuwenden. Die Wahl fiel auf Qalcat Širqāt, das «Erdschloß»: die Ruine einer assyrischen Stadt am Westufer des Tigris, 25 km nördlich der Mündung des Kleinen Zab gelegen; ein Schutthügel, den man zu Recht für die Reste der Stadt hielt, die Assyrien, dem «Assur-Land», ihren Namen gegeben hatte.
Bereits in der Mitte des 19. Jh. waren dort durch den erfolgreichen britischen Ausgräber Austen Henry Layard und seinen Kollegen Hormuzd Rassam Sondagen vorgenommen worden. Abgesehen von einem eindrucksvollen Sitzbild des assyrischen Königs Salmanassar III. (858-824 v.Chr.) und einigen Keilschriftdokumenten stieß man jedoch nicht auf solch spektakuläre Funde wie in den assyrischen Königspalästen von Ninive, Kalchu (Nimrud) und Dur-Schar-rukin («Sargonsburg»), wo zur gleichen Zeit herrliche Basreliefs freigelegt wurden. Enttäuscht verzichteten die Engländer daher auf eine eingehende Untersuchung der Stadt Assur.
Mit den Ausgrabungen der Deutschen Orient-Gesellschaft in Babylon unter der Leitung von Robert Koldewey hatte man jedoch eine ganz neue Richtung in der Archäologie eingeschlagen. Anders als bei den alten Grabungen lag das Hauptinteresse nicht mehr darin, die heimischen Museen mit repräsentativen Kunstwerken zu versorgen. Vielmehr hatte man sich zum Ziele gesetzt, die Lebenswelt der altorientalischen Kultur systematisch zu erforschen.
Unter diesem Gesichtspunkt erschienen Ausgrabungen in Assur vielversprechend. Immer noch hoch anstehende Erdwälle, unter denen sich die Reste gewaltiger Festungswerke befinden mußten, zeugten ebenso von der Bedeutung der Stadt wie der sich 30 m hoch über das Stadtgebiet erhebende quadratische Lehmberg, der sich dem geschulten archäologischen Auge als Reste eines mesopotamischen Stufenturms (Ziqqurrat) zu erkennen gab. Aus Keilschrifttexten wußte man bereits, daß hier der kultisch-religiöse Mittelpunkt des einst so mächtigen assyrischen Reiches gelegen haben mußte. Es erschien nicht unwahrscheinlich, daß bedeutsame Tontafelarchive und -bibliotheken zu Tage kommen würden, die Auskunft geben konnten über Religion, Geistes- und Alltagsleben der Assyrer. Aber nicht nur Tempel, Paläste und Bibliotheken wollte man aufspüren, sondern - erstmals in der Geschichte der Vorderasiatischen Archäologie - das gesamte Gefüge einer altorientalischen Stadt untersuchen. Die im Vergleich zu den anderen assyrischen Metropolen recht kleine Fläche des Stadtgebietes von nur 1,3 km2 ließ dieses reizvolle Unternehmen nicht aussichtslos erscheinen.
Der Deutsche Kaiser Wilhelm II. hatte sich persönlich bei Sultan Abdul-Hamid für die Genehmigung der Grabung verwendet. Da sich die Ruine der Stadt im Privatbesitz des Sultans befand, konnte dieser das Gebiet von Qalcat Širqāt dem lebhaft an den Ausgrabungen interessierten Kaiser rasch zusprechen und damit die deutsch-osmanische Freundschaft bekräftigen.
Im Herbst 1903 begann die Unterneh-mung. Robert Koldewey übertrug die Leitung der Ausgrabung dem erst 28jährigen hochbegabten Architekten Walter Andrae, der seit 1898 Koldeweys Assistent in Babylon gewesen und so mit den Methoden und Problemen der Vorderasiatischen Archäologie bestens vertraut war. Koldeweys Wahl hätte glücklicher nicht ausfallen können. Er dürfte damals schon geahnt haben, daß sich in Andraes Person - wie in keinem Vorderasiatischen Archäologen vor (und wohl auch nach) ihm - der Sinn des Bauforschers und Archäologen für das wissenschaftlich Exakte mit der Beobachtungsgabe und der Sensibilität eines begabten Malers vereinte, der nicht nur trocken dokumentieren und beschreiben, sondern das Wesen des Entdeckten verstehen wollte. «Aus dem Gesehenen das zu Erschauende, aus dem Gemessenen das Unermeßliche, Geistige zu erkennen und ein inneres Bild von Assur zu erwerben», war das erklärte Ziel Walter Andraes. Elf Jahre lang bis zum Abschluß der Grabungen im Jahre 1914, nur unterbrochen von einem Urlaub im Sommer 1908, erforschte Andrae mit 180 Arbeitern das Stadtgebiet von Assur. Es gelang ihm, ein sehr genaues Bild von der Akropolis der Stadt mit ihren Tempeln, Palästen und Befestigungswerken zu zeichnen. Das gesamte, von Mauern umgebene Stadtgebiet überzog man mit 10 m breiten Suchgräben, die im Abstand von jeweils 100 m angelegt wurden. So konnten auch die Wohngebiete und das gesamte Gefüge der Stadt erfaßt werden.
Im Laufe der Jahre offenbarte sich dem Ausgräber Walter Andrae, der mehr als ein Jahrzehnt in und mit der Ruine der alten Hauptstadt gelebt hatte, das «innere Bild von Assur» so sehr, daß er in seinem 1938 erschienenen Buch «Das wiedererstandene Assur»34 eine meisterhafte Beschreibung der Stadt mit ihrem Handel und Wandel geben konnte, die so fesselnd und lebendig ist, als habe Andrae Assur in seiner Blütezeit mit eigenen Augen gesehen. Daneben lassen auch zahlreiche künstlerisch wertvolle und gleichwohl wissenschaftlich gesicherte Rekonstruk-tionszeichnungen aus der Feder Andraes die assyrische Hauptstadt für den Leser «wieder erstehen».
In den Jahren 1988 und 1990 konnten die Ausgrabungsergebnisse Andraes in zwei Grabungskampagnen unter R. Dittmann und B. Hrouda ergänzt werden. Daneben hat der irakische Antikendienst mehrere kleinere Grabungen in Assur vorgenommenund vor allem wertvolle Wiederherstellungsarbeiten geleistet.