Irak, 1898-1917
Die Reste des Turms von Babel. Luftbild von Babylon.
Keine Stadt der Weltgeschichte, die längst in Schutt versunken ist, hat für die europäische Kultur so viele bedeutungsschwere Assoziationen wie Babylon. Schon ein Blick in die Zeitung genügt, um das zu bestätigen. Der Begriff «Sündenbabel» ist jedem geläufig, auch wenn er nie die Bibel aufgeschlagen hat. Größere Bauvorhaben zweifelhaften Sinns werden heute gern als «das überflüssigste Projekt seit dem Turmbau zu Babel» beschrieben. Wer einen internationalen Kongreß besucht, dem schlägt ein «babylonisches Sprachengewirr» entgegen. Derjenige, der noch über klassische Bildung verfügt, möchte vielleicht «in Babylon sterben», d.h. auf dem Höhepunkt des Lebens und des Ruhmes wie Alexander der Große, der nach der Eroberung des Perserreiches 32jährig in Babylon starb. Zum deutschen Lyrik-Kanon des 19. Jhs. gehörte eine Ballade über den König Belsazar und die Schrift an der Wand von Heinrich Heine, deren Anfangsverse auch heute noch gern zitiert werden: «Die Mitternacht kam näher schon, in tiefer Ruh lag Babylon.» Der Aufenthalt der Päpste in Avignon im 14. Jh. wird - nicht ganz zu Recht - als «Babylonische Gefangenschaft», nach dem erzwungenen Exil der Juden in Babylon nach der Eroberung Jerusalems 587 v.Chr., bezeichnet. Eine Zusammenstellung aller literarischen Verarbeitungen der Themen, die mit dem Namen «Babylon» zusammenhängen, wäre ein enzyklopädisches Unternehmen.
Der Name «Babylon» hat also für den abendländischen Kulturkreis einen unvergleichlichen Klang, und fast könnte man von dem «Mythos einer Metropole» sprechen. Die Erforschung der altorientalischen Welt auf der Basis keilschriftlicher Quellen hat im Laufe des 20. Jhs. gezeigt, daß bereits das Babylon der Antike seinen «Mythos» im eigentlichen Sinne besaß.
Babylon gehört nicht zu den uralten Städten Mesopotamiens, deren Gründung bis ins frühe 4. Jt. v. Chr. zurückgeht. Im Gegenteil: Im Vergleich zu Uruk, dem großen Zentrum der frühsumerischen Kultur, zu Eridu, dem ältesten Kultzentrum Südmesopotamiens überhaupt und anderen Städten war Babylon eine späte Gründung. Die Stadt wird erstmals im 22. Jh. v. Chr. erwähnt, erlangt aber erst unter Hammurapi um 1700 v. Chr. (nach anderer Chronologie gut ein halbes Jahrhundert früher) ihre überragende Bedeutung. Hammurapi, der vor allem durch seine Gesetzesstele - heute im Louvre -berühmt geworden ist, eroberte das ganze südliche Mesopotamien und baute seine Hauptstadt glanzvoll aus. In diese Zeit fällt der Ursprung des «Babylon-Mythos». Bis dahin war das Land, das man später Babylonien nannte, durch zahlreiche Stadtstaaten geprägt, die in einem steten Kampf um die Vorherrschaft standen. Nach der Vorstellung der vorangegangenen Zeit gab es zwar die Fiktion eines einzigen Königtums, doch wurde diese Vorstellung mit der Realität der zahlreichen Stadtstaaten dadurch versöhnt, daß man behauptete, dieses eine Königtum habe immer nur eine gewisse Periode lang in einer Stadt existiert und sei danach in eine andere Stadt überführt worden. In den Inschriften Hammurapis ist nun die Rede von einem ewigen Königtum in der Stadt Babylon. Dieser Anspruch, daß in alle Ewigkeit der Sitz des Königtums ausschließlich Babylon sei, wird durch eine radikale Umgestaltung der überkommenen Theologie untermauert. Der Stadtgott von Babylon, Marduk, war ursprünglich kein bedeutender Gott gewesen, wie ja Babylon selbst vor Hammurapi keine große Bedeutung gehabt hatte. An der Spitze des Pantheons standen vielmehr andere Götter: Anu, der Himmelsgott, der in der uralten Metropole des Südens, in Uruk, verehrt wurde, Enlil, der Gott des alten sumerischen Kult- und Gelehrtenzentrums Nippur, und Ea, dessen angestammter Kultort die bereits um 4000 v. Chr. gegründete Stadt Eridu war.
In dem Prolog zu der Gesetzessammlung Hammurapis heißt es, die großen Götter Anu, Enlil und Ea hätten die Würde des höchsten Gottes auf Marduk übertragen und zum Zeichen dessen seine Kultstadt Babylon über alle anderen Städte übermächtig werden lassen und hier ein ewiges Königtum eingesetzt, dessen «Fundamente wie Himmel und Erde festgegründet sind».
Der Aufstieg Marduks zum mächtigsten Gott und damit einhergehend die Begründung eines ewigen Königtums in seiner Stadt Babylon ist weiter ausgebaut worden in dem babylonischen Weltschöpfungslied, das nach seinen ersten Worten Enuma elisch «als droben» benannt wurde. Dieses Gedicht, das sieben Tafeln zu je etwa 160 Versen umfaßte, entstand wahrscheinlich um 1100 v. Chr. in Babylon. Es handelt von den früheren Göttergenerationen und dem Konflikt zwischen den Urgöttern und den jüngeren Göttergenerationen, der durch Marduk zugunsten der jüngeren Götter entschieden wird. Marduk steigt in diesem Kampf zum König der Götter auf und schafft aus dem Leichnam der Urgöttin das Weltgebäude. Als Dank bauen die Götter ihm seine Stadt Babylon und darin seinen Tempel Esagil. Über die Vorstellungen, die sich damit verbanden und die Babylon eine zentrale religiöse Rolle verliehen, schreibt der Heidelberger Assyriologe Stefan M. Maul:
«Ort und Gestalt des Tempels des Marduk waren laut Enuma eliš freilich nicht zufällig gewählt. An dem Ort, von dem letztlich alles Leben ausgegangen war, dort, wo Marduk geboren und der Mensch erschaffen wurde, bauten die Götter ihrem König sein Haus. Das Heiligtum selbst errichteten sie über dem apsû, in dem Ea - bereits in der Vorwelt -seinen Wohnsitz errichtet hatte, über dem Ort, aus dem Marduk hervorgegangen war und der auch in dem tatsächlichen, historischen Tempelkomplex Esagil als Sitz des Ea realiter bestand. Das Esagil galt sowohl als Ebenbild des Palastes Eas im apsû als auch als Ebenbild des über dem Esagil gedachten himmlischen Palastes Ans. Jeder der drei kosmischen Bereiche, der Himmel, die Erdoberfläche und die Erde, wird dieser Vorstellung zufolge von einem Götterpalast beherrscht. Gemeinsam bilden alle drei Paläste eine vertikale Achse, in deren Zentrum Babylon mit dem Tempel Marduks liegt. Ausdrücklich wird Esagil als Stütze und Verbindung des in der Erde befindlichen Grundwasserhorizontes apsû mit dem Himmel bezeichnet. Das Heiligtum Esagil und die Stadt Babylon liegen also in der Mitte der vertikalen kosmischen Achse und verbinden diese mit der irdischgegenwärtigen Welt. Sie sind (nach Enuma eliš) der Ort, an dem Marduk bei der Formung der Welt aus dem Leibe der toten Tiāmat den Schwanz der drachen-gestaltig gedachten erschlagenen Urmutter an der Weltenachse Dur-mah befestigte, um so mit ihrem Unterleib den Himmel festzukeilen und seinem Schöpfungswerk ewige Dauer zu verleihen. Diese axis mundi nahm für den Besucher des alten Babylons sichtbare Gestalt an in dem siebenstufigen Tempelturm, der den Namen E-temen-an-ki,