Türkei, 1906-1911
Der Große Tempel, wie er sich dem Entdecker von Hattuscha, Charles Texier, 1837 darstellte.
Den Schlüssel für die weitere Lösung der Hethiter-Frage erwartete Messerschmidt also von Ausgrabungen in Kleinasien. Die 1906 eröffneten Ausgrabungen in den Ruinen der hethitischen Hauptstadt Hattuša bei dem damaligen Dörfchen Boğazköy 160 km östlich von Ankara waren geeignet, diese Erwartungen noch bei weitem zu übertreffen.
Die Ruine selbst und die in der Nähe gelegene eindrucksvolle Felsanlage Yazihkaya war bereits seit langem bekannt. Der französische Architekt und Archäologe Charles Texier hatte sie im Jahre 1834 entdeckt, und 1839 hatte er seine Beobachtungen zusammen mit Zeichnungen der Ruinen und Reliefs in einem prächtigen Tafelwerk («Description de L'Asie Mineure») publiziert (Abb. 110. lila. 112a. 113).
Die romantischen Beschreibungen der im Gegensatz zu heute damals noch nahezu unbekannten wilden Landschaft, wie sie sich Texier oder dem englischenGeologen William John Hamilton60 (Abb. 108) darbot, erwecken den Eindruck einer geheimnisvollen, verwunschenen Ruinenstadt, von der die Dorfbewohner berichteten, daß dort in längst vergangenen Zeiten ein Prinz namens Zizim einen großen Palast und einen ganzen Basar errichtet habe61 - eine Legende, die zweifellos auf eine Deutung des Großen Tempels als Palast und seiner Magazinräume als Bazar zurückgeht.62
Karl Ritter, der Begründer der wissenschaftlichen Erdkunde, zitiert die Schilderung Texier s, der die Ruinenstätte von Süden, über Yozgat und Nefesköy kommend, erreicht hatte, in deutscher Übersetzung:
«[<]22. Aug. Der Weg führte gegen N.N.O. über eine nackte trachytisch-por-phyrische und Trachyt-Conglomerat-Kette in ein gut bewässertes und bewaldetes Thal hinab, dessen Fichtenbäume aber zu früh zu Brennholz gehauen wurden, um zu einer besonderen Größe gelangen zu können. Je weiter man im Thale abwärts vordrang, wurde es immer pittoresker und wilder, aus platonischem Gebirge bestehend, bis man die Kalksteinketten bei Boghaz kjöi erreichte ... Hier in dessen oberem Thale zu Boghaz kjöi zeigte sich an 100 Schritt in Ost vom Dorfe ein offener Raum durch einen
künstlichen Wall eingeschlossen, dessen nordöstliche Seite massive cyclopische Mauern von Ungeheuern Steinen bilden ... Man kann zwei Stadtteile, eine untere und eine obere Stadt, unterscheiden, welche letztere von der O.- und N.O.-Seite die untere, in deren Mitte die große Tempelruine steht, überragt, während zu der obern die Befestigungsund Schutzwerke hinaufsteigen, welche die untere im Halbkreise umgeben ...
Der Tempel besteht, soweit seine Grundmauern noch stehen geblieben, nur aus kleinen, aber zum Theil trefflich be-hauenen Quadern, von denen aber nur noch ein paar Schichten aufeinanderlie-gen: er ist seinen Eintheilungen nach ganz verschieden von allen andern Archi-tecturresten Kleinasiens. Man tritt durch drei ungleiche Pforten in ihn ein, von denen die größte 12 Fuß Breite hat; aus ihr tritt man in den großen innern Raum von 83 Fuß Länge und 68 Fuß Breite, wol die einstige Cella, ein; ihn umlaufen verschüttete Corridors oder Säulenhallen, die nur durch Ausgrabungen zu ermitteln wären ... Das Hauptmaterial ist Kalkstein, bis auf kleinere Beiwerke an der Außenseite, die aus einer grünen, sehr harten Serpentinsteinart gearbeitet sind ... Mehrere der über dieser untern Tempelstätte sich erhebenden Felskuppen zeigten Spuren bearbeitender Menschenhand. Ein solcher Fels im S.O. der Tempelruine war durch Kunst in seiner Mitte zu einem Durchgange durchschnitten, dessen Wände man poliert hatte. Ganz nahe von ihm südwärts zu einem Bache, der sich zwischen beiden Flüssen zum südlichen derselben fortschlängelt, traf man auf den Eingang eines halbzuge-schlämmten unterirdischen Ganges, der gegen den untern Tempelraum zulief, in welchem man aber mit Fackeln nur etwa 300 Fuß weit vordringen konnte, ohne sein Ende zu erreichen, oder seinen Zweck erforschen zu können.[>] Aehnli-che Stolleneingänge mit polirten Seitenwänden ließen sich mehrere auf der Tempelterrasse wahrnehmen, alle von so
eigenthümlicher Construction, daß ihnen Texier den unbestimmten Namen
Henry Layard vermutete in der den Zug der Göttinnen anführenden Gestalt Hera oder die assyrische Venus (v. Pterium).67 Der Phantasie waren kaum Grenzen gesetzt; so sah man etwa in der Kartusche Tudchalijas einen «seltsamen Kultgegenstand - religiöses Emblem», welches «eine fischschweifige Göttin» darstellt.68 Die Größe der Anlage und die monumentalen Ruinen, die man schließlich in die Zeit der Lyder und Meder datierte, erregten in Europa erhebliches Aufsehen. Viele der an der Erforschung des alten Anatolien interessierten Gelehrten haben daraufhin Boğazköy besucht und über ihre Beobachtungen berichtet. Die von solchen Reisen mitgebrachten Bruchstücke von Tontafeln gaben den Anlaß, daß im Jahre 1882 Carl Humann im Auftrag der Berliner Königlichen Museen Abgüsse der Felsreliefs von Yazilikaya anfertigte und den ersten zuverlässigen Plan des Ruinengebietes herstellen ließ.69
Die Ausgrabungen bis zum Ersten Weltkrieg
1893/94 unternahm der französische Ausgräber Ernest Chantre erste Sondagen in dem Felsheiligtum Yazilikaya, auf der Königsburg Büyükkale und beim Großen Tempel; dabei kamen Siegelabdrücke und Tontafeln zutage.70
Der entscheidende Schritt zur Erforschung der hethitischen Hauptstadt sollte im Oktober des Jahres 1905 erfolgen, als der Berliner Assyriologe Hugo Winckler (Abb. 118) nach Boğazköy kam, um den Tontafelfunden nachzugehen. Als einen der Fundorte stellte er den Westabhang der Königsresidenz Büyükkale («Große Burg») fest. Am 17. Juli des folgenden Jahres begann an dieser Stelle die erste Grabungskampagne, die etwa 2500 Tontafelbruchstücke erbrachte. Für die Finanzierung hatte Winckler zwei Privatleute sowie die von ihm selbst mitgegründete Vorderasiatische Gesellschaft und das Orient-Comité (s. S. 13) gewinnen können. Leiter der Feldarbeiten war