Ägypten, 1911-1914
Wandmalerei aus El-Amarana, Szene: Zwei Töchter des Amenophis IV; Nofernoferuaton und Nofernoferure.
Die letzte Kampagne lief von November 1913 bis März 1914. Das größte in jenem Winter ausgegrabene Gehöft gehörte dem General Ramose. Wie die Reste von Inschriften auf steinernen Türpfosten zeigen, hat der Besitzer sein Haus errichtet, als er noch Ptahmose (der Gott Ptah ist geboren) hieß, doch im Sinne von Echnatons Sonnenkult änderte er später seinen Namen in Ramose («der Sonnengott Ra ist geboren»).
Der damalige Direktor des «Service des Antiquités», Gaston Maspero, handhabte die Bestimmungen über archäologische Fundteilungen stets in großherziger Weise. Daher kamen die meisten Funde der Amarna-Grabung nach Berlin, der kleinere Teil ins Ägyptische Museum von Kairo. Noch 1913 organisierte die DOG eine Ausstellung der im Thutmose-Gehöft und der anonymen Werkstatt P 49.6 gefundenen Kunstwerke. Es war diese Ausstellung, die in der breiten Öffentlichkeit eine bis heute anhaltende Begeisterung für die Kunst der Amarnazeit ausgelöst hat. Beispielsweise erkannte der Kunsthistoriker Ludwig Curtius in dem in der Ausstellung gezeigten Sandsteinkopf von einer Nofretete-Statue eine «sensitive Frauenseele», wie sie sich «ähnlich höchstens in der deutschen Gotik hätte ausdrücken können». Vor dem «Seherantlitz» Echnatons (Abb. 102) dünkte es den Ägyptologen Heinrich Schäfer, «als ob nur bei wenigen Bildnissen des gesamten Altertums das geistige Wesen eines Menschen so sicher erfaßt, so wahrhaft ergreifend gestaltet worden sei». Bei der «wundervollen Kalksteinstatuette der Königin» deutete Schäfer den «vortretenden Leib» im Sinne eines «Schönheitsideals», «das uns ähnlich auch in unserer älteren deutschen Kunst begegnet»; später wollte der Ägyptologe Cyril Aldred hier die Andeutung einer Schwangerschaft erkennen. Wie aber die für Nofretetes Bildnisse ganz ungewöhnlichen starken Mund-Nasen-Falten und ihre um eine Einheit des Proportionskanons tiefer gesetzten Brüste zeigen, hat der Bildhauer ein stilisiertes Altersporträt geschaffen und auch der «vortretende Leib» dürfte in diesem Sinne und nicht als Indiz einer Schwangerschaft zu deuten sein.
In der Ausstellung war auch ein Dutzend nicht-königlicher Stuckbildnisse aus dem Thutmose-Fund zu sehen. Das Besondere an ihnen ist eine ins Auge fallende physiognomische Individualität in Verbindung mit Altersmerkmalen. Das moderne Interesse am Individualporträt sicherte diesen Stuckbildnissen die Aufmerksamkeit eines breiten Publikums. Nach einer ersten Deutung sollen diese Bildnisse zum Teil direkte Abformungen von Gesichtern sein. Damit war der Weg frei für psychologisierende Ausdeutungen, die - wie das folgende Zitat - in aller Regel in die Kerbe der «dekadenten Amarnazeit» hieben: «Kreaturen ... Emporkömmlinge ... deren ordinäre Gesichter uns Gipsabdrücke erhalten haben». Aber die Stilisierung der physiognomischen Details spricht eindeutig für Abgüsse von künstlerisch geformten Vorlagen. Allerdings gibt es bis jetzt aus Amarna keine Statuenfunde, die diesen Stuckbildnissen entsprechen. Sollte es sich um Bildnisstudien handeln, die allein für den Werkstattgebrauch bestimmt waren?
Bis heute fehlt ein zusammenfassender und wertender Bericht über die Amarna-Funde der DOG. Lediglich die Büste der Nofretete wurde noch von Borchardt selbst vollständig publiziert. Ein Konflikt um dieses Meisterwerk schwelte seit 1913, als die Büste bei der Ausstellung der Amarnafunde nicht gezeigt und auch weiterhin nicht ausgestellt wurde. Borchardt befürchtete eine Verschärfung des erst 1912 geänderten Fundteilungsrechtes, wenn publik würde, daß ein so hervorragendes Stück wie die Nofretete-Büste Ägypten aufgrund des geltenden Rechtes verlassen konnte. Es versteht sich von selbst, daß dieses Taktieren auch die üble Nachrede hervorrief, es sei bei der Erwerbung der Büste nicht mit rechten Dingen zugegangen.
Die Nofretete-Publikation erschien als WVDOG 44 Anfang 1924, während die Büste selbst ab März jenes Jahres im Berliner Ägyptischen Museum der Öffentlichkeit zugänglich war. Schon 1925 verlangte Pierre Lacau, Masperos Nachfolger, die Büste für das Museum in Kairo. Die deutsche Seite weigerte sich, dieser Forderung Folge zu leisten. Offizielle ägyptische Stellen haben den von Lacau vorgebrachten und rechtlich nicht begründeten Anspruch nicht wieder erhoben.
Die Veröffentlichung der Nofretete-Büste hat wichtige Fragen offengelassen. Beispielsweise ist die populäre Deutung der Büste als Bildhauermodell von vornherein fragwürdig, weil altägyptische Bildhauer ohne Modelle arbeiteten. Ägyptologisch sinnvoll ist dagegen die Deutung dieser Büste als Objekt des Königskultes. Borchardt selbst war überzeugt, daß der Betrachter «hier nicht irgendeine konstruierte Idealbüste, sondern das stilisierte, aber trotzdem durchaus ähnliche Abbild einer bestimmten Person von scharf ausgeprägtem Äußeren vor sich hat». Dagegen zeigt die Auswertung einer fotogrammetrischen Aufnahme der Büste, daß hier kein proportional getreues Porträt der Königin vorliegen kann, weil die wesentlichen Linien des Gesichtes mit Hilfe eines Quadratrasters konstruiert sind.
Nach wie vor stellt die Amarna-Grabung der DOG die größte archäologische Untersuchung einer geschlossenen Siedlungsfläche in Ägypten dar. Bis zum Ende der 4. Kampagne hat die Expedition etwa 530 Wohneinheiten unterschiedlicher sozialer Zugehörigkeit freigelegt und detailliert aufgenommen. Auf dieser Grundlage erarbeitete Herbert Ricke eine typengeschichtliche Zuordnung der ausgegrabenen Häuser, die 1932 unter dem Titel «Der Grundriß des Amarna-Wohnhauses» als WVDOG 56 erschienen ist. Aber erst 1980 erschien die noch von Ricke aus Borchardts Grabungsunterlagen kompilierte erschöpfende Beschreibung des Architekturbefundes. Daran knüpften J. J. Janssen, B. Kemp und C. Tietze an, die den Grabungsbefund nach sozialen und ökonomischen Gesichtspunkten analysierten. Beispielsweise läßt der architektonische Befund nach Tietze auf eine dreifache soziale Schichtung der Einwohnerschaft von Amarna schließen: «Mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebte in kleinen Häusern, etwa ein Drittel in mittelgroßen, während der Rest Häuser von bemerkenswerter Größe bewohnte». Durch diese Analysen ist das von Borchardt 1907 gesetzte Ziel «der Kenntnis der Wohn- und zum Teil auch der Lebensverhältnisse der Ägypter in jeder sozialen Stellung zur Zeit der 18. Dynastie» erreicht.
Der Ausbruch des 1. Weltkrieges schien der Amarna-Grabung der DOG ein nur vorläufiges Ende zu setzen; doch ging die Konzession für Amarna nach dem Krieg an die English Exploration Society über, und die DOG hat seitdem nicht mehr in Ägypten gegraben.