Ägypten, 1902-1908
Zwei Wegstunden südlich von den großen Pyramiden bei Giseh liegen bei Abusir drei kleinere Pyramiden. Um 2450 v. Chr. haben hier Könige der 5. Dynastie ihre Grabbezirke angelegt. Einer dieser Könige, Niuserre, errichtete wenig nördlich von seiner Pyramide ein Sonnenheiligtum als selbständige Kultanlage. Von 1898 bis 1901 hat eine Expedition des Berliner Ägyptischen Museums diese Anlage freigelegt, zuletzt unter der Leitung des Ägyptologen und Baumeisters Ludwig Borchardt, seinerzeit Wissenschaftlicher Attaché beim Deutschen Generalkonsulat in Ägypten.
1901 gingen die für die Grabung zur Verfügung stehenden Gelder des Berliner Museums zu Ende, und Borchardt versuchte die DOG für Arbeiten in Niuserres Pyramidenbezirk zu gewinnen. Er hoffte, einen der damals architektonisch so gut wie unbekannten königlichen Totentempel des Pyramidenzeitalters freilegen zu können. Sein Schreiben an die DOG schloß mit der Bitte, weitere Grabungen «mit den Mitteln der Gesellschaft gütigst fördern zu wollen». Da aber die Interessen der Gesellschaft in erster Linie den Ausgrabungen in Babylonien galten, fand sich der Vorstand der DOG zu einer
ägyptischen Unternehmung nur bereit, weil James Simon als privater Geldgeber einspringen wollte: «Da durch diese verhältnismäßig kleine Grabung die großen Aufgaben die unsere Gesellschaft zur Zeit in Babylonien verfolgt und noch auf Jahre hinaus zu verfolgen gedenkt, in keiner Weise berührt werden, so glaubte der Vorstand auf das Anerbieten seines Mitgliedes eingehen zu sollen».
Die Grabungen im Pyramiden-Bezirk von Niuserre fanden von 1902 bis 1904 jeweils in den Wintermonaten statt. Neben dem Grabungsleiter Borchardt nahmen der Ägyptologe Georg Möller und die Architekten Boehden, Decker, Dotti und Völz teil. Die Simonschen Gelder erlaubten die Anwerbung von 350 Arbeitern, die dem bewährten Vorarbeiter Ahmad el-Senussi unterstellt waren. Die Untersuchung setzte vor der SO-Ecke der Pyramide im Bereich des Totentempels ein und folgte den Mauerresten bis zur Mitte der östlichen Pyramidenkante. Als Tempelgrundriß stellte sich ein umgekehrtes L heraus, gebildet von einem Vorraum mit Magazinen, gefolgt von einem rechteckigen Säulenhof, hinter dem die Tempelachse nach Osten abknickt, um in den Totenopferraum mit der Hauptkultstelle zu führen.
Östlich vom Totentempel waren zwei Reihen von schuttbedeckten Gräbern zu erkennen. Sie erwiesen sich als Familien-und Beamtengräber aus der Zeit von Niuserre selbst. Dazwischen lagen spätere Gräber von Priestern, Bediensteten in Niuserres Totenkult, der zwei- oder dreihundert Jahre Bestand gehabt hatte. Sehr ärmliche Gräber stammten aus Zeiten, in denen es keinen Kultbetrieb mehr gab und der Tempel in Ruinen lag. Die Belegung des Friedhofes endete in der griechischen Zeit. 1908 hat H. Schäfer alle Funde aus pharaonischer Zeit in WVDOG 8 unter dem Titel «Priestergräber und andere Grabfunde vom Ende des Alten Reiches bis zur griechischen Zeit» vorgelegt. Die noch späteren Funde veröffentlichte C. Watzinger in «Griechische Holzsarkophage aus der Zeit Alexanders des Großen» (WVDOG 6). In einem der griechischen Sarkophage lag bei dem Toten ein Papyrus mit dem bislang als verloren geltenden Gedicht des Timotheos von Milet auf die Schlacht von Salamis. U. von Wilamowitz-Möllendorff veröffentlichte und kommentierte diesen Papyrus, der heute einen der Schätze der PapyrusSammlung des Berliner Ägyptischen Museums bildet, in WVDOG 3.
Pyramide und Totentempel stehen auf einer Anhöhe in der Wüste. Im Schutt auf dem zum Fruchtland hinunterführenden Hang zeichnete sich eine Rampe ab, die von einem kleinen Gebäude im Tal ausging. Dieses Eingangsgebäude stellte sich als Taltempel des Pyramidenbezirks heraus, an dem einst ein vom Nil aus abzweigender Stichkanal endete. Die «Rampe» erwies sich als Fundament eines rund 400 m langen gedeckten Aufweges. Die Wände des Aufweges waren innen mit Reliefs geschmückt, die den König in Löwengestalt zeigen, der die Feinde Ägyptens angreift. Die in Resten gefundenen Deckenbalken sind mit gelben Sternen auf blauem Untergrund bemalt; die Decke des Aufweges symbolisierte mithin den Sternenhimmel. Borchardts Publikation über das Grabdenkmal des Niuserre erschien 1907 als WVDOG 7, rund drei Jahre nach Abschluß der Grabung. Damit war die in der Satzung der DOG festgelegte Bestimmung erfüllt, Grabungsergebnisse so rasch wie möglich zu publizieren.
Im Januar 1907 wurden die Grabungen wieder aufgenommen und die schon 1904 begonnene Freilegung des Pyramiden-Bezirks von König Neferirkare zu Ende geführt. Für die Arbeiten vor Ort waren Möller und der Architekt Uvo Hölscher verantwortlich. Der Totentempel erwies sich nur in seinem westlichen Teil als Steinbau, der östliche Teil dagegen als Ziegelbau. Anders als beim Totentempel des Niuserre führte hier eine schräg verlaufende Vorhalle mit zwei Reihen von Säulen in einen breiten, rechteckigen Hof mit Holzsäulen. Vom Hof gelangte man über eine Rampe und einen zweimal abknickenden Korridor zur Hauptkultstelle direkt östlich vor der Pyramide. Im steinernen Tempelteil fanden die Ausgräber spärliche Reste von Reliefs. Publikumswirksamer waren Funde von Scheingefäßen aus soliden Holzkernen, außen vergoldet und mit Einlagen aus Fayence (Kieselkeramik) dekoriert. Abbildung 90 zeigt ein restauriertes Exemplar, das in das Berliner Ägyptische Museum gekommen ist. Das Gefäß ist 44 cm hoch; die hieroglyphischen Einlagen nennen die Königstitel und den Namen «Neferir-kare».
Ein aus dem Tal bis zum Totentempel führender Aufweg fehlt hier, und wie ein Blick auf Abbildung 87 lehrt, zielte der heute in Niuserres Totentempel endende Aufweg ursprünglich zur Pyramide von Neferirkare. Offensichtlich hat Niuserre den unfertigen Aufweg seines Vorgängers übernommen und für sich selbst zu Ende gebaut. Wider Erwarten hatte die Abusir-Grabung den größten Erfolg im Pyramidenbezirk von Sahure, wo die Arbeiten im März 1907 als Versuchsgrabung begannen. Das Schuttfeld östlich von der Sahure-Pyramide hatte vermuten lassen, daß hier vom Oberbau des Totentempels nicht mehr viel übrig sei und sich allenfalls der Grundriß würde ermitteln lassen. Aber wie die Versuchsgrabung ergab, war der Sahure-Tempel besser erhalten als der von Niuserre. Daher stimmte die DOG dem Vorschlag zu, im Herbst 1907 noch den Sahure-Bezirk auszugraben und erst danach mit neuen Grabungen in Amarna zu beginnen. Als aber Reliefs, Säulen und Architrave des Totentempels in nicht erwarteter Menge zutage kamen, änderte man den Plan und setzte bis Ende März 1908 alle zur Verfügung stehenden Mittel in Abusir ein. Zu den bereits genannten Expeditionsmitgliedern kam der Papyro-loge Friedrich Zucker hinzu, ferner die Architekten Walter Honroth und N. N. Schultze, der Ägyptologe Walter Wreszinski und der Maler Alfred Bollacher. Die Zahl der Arbeiter wurde auf 600 erhöht, eine für die damalige Zeit hohe und gar für heutige Verhältnisse unerhörte Zahl.
Anders als im Grabbezirk von Niuserre stellten die Ausgräber in Sahures Anlage einen weitgehend axialen Grundriß fest, insofern die Symmetrieachse, auf der Vorraum und Säulenhalle liegen, den Aufweg geradlinig fortsetzt. Auch die Hauptkultstelle liegt auf dieser Achse, doch erreicht man diesen Raum durch einen abknickenden Korridor. Die Bauteile der Säulenhalle waren über alle Erwartungen gut erhalten: Rund eintausend Jahre nach der Errichtung hat die Halle als Kultstätte für eine Löwengöttin gedient, was sich als Schutz vor Zerstörungen erwies. Die Wände der Säulenhalle umschließen eine Grundfläche von 45 x 31,5 Ellen (23,6 m x 16,5 m), was genau der Proportion 10 : 7 entspricht. Sechs Säulen stehen an den Langseiten, vier an den Schmalseiten. Die 12 Ellen (6,3 m) hohen monolithischen Granitsäulen tragen die Decke eines Umgangs; die Hofmitte ist nach oben offen. Borchardt kommentierte den in Gedanken rekonstruierten Befund mit rhapsodischen Worten: «Aber wie hat der Architekt es verstanden, diesen Raum würdig auszugestalten, welche Farbenwirkung hat er allein durch die überlegte Verwendung der Materialien hervorzubringen gewußt! Der Boden ist aus schwarzem Basalt, auf dem sich der gelblich-weiße Alabasterblock, der den Altar bildet, gewaltig abhebt und unwillkürlich aller Augen auf sich zieht. Die Säulen und die Architrave sind aus rotbuntem Granit, darüber der blaue Himmel, der unter der Kalksteindecke des Umgangs durch blaue Bemalung, auf der gelbe Sterne blinken, fortgesetzt ist, so daß die Kronen der Palmensäulen frei in den Himmel zu ragen scheinen. Aus dem Hintergrunde leuchtet, dem Eintretenden sofort sichtbar, von hoch oben die einfache Dreiecksform der Pyramide herein.»
Im Taltempel und in der Säulenhalle kamen ca. 150 qm an Relieffragmenten, zum Teil meterhohe Platten, zutage. Bis zum Fund der Abusir-Reliefs haben die Ägyptologen angenommen, es hätte in den königlichen Grabanlagen der Pyramidenzeit keine Reliefdekoration gegeben. Kulturgeschichtlich wichtig sind Fragmente mit den ältesten Darstellungen ägyptischer Seeschiffe; eine Jagddarstellung schildert die damalige ägyptische Tierwelt.
Die Ausgräber haben seinerzeit nicht alle im Boden liegenden Reliefs gefunden. Denn während Sahures Tempelbauten vollständig aufgedeckt wurden, legte man von dem über 200 m langen Aufweg nur das untere und obere Ende frei. Die kürzlich im Bereich des Auf-weges gemachten Zufallsfunde von dekorierten Blöcken, lassen vermuten, daß hier noch weitere Reliefs unter der bis zu 10 m hohen Schuttschicht verborgen liegen. Die von Borchardt geleitete Expedition hatte kaum Gelegenheit nach diesen Reliefs zu suchen, denn trotz des außerordentlichen Erfolges der Sahure-Grabung beschloß der Vorstand der DOG noch im Frühjahr 1908, auf weitere Ausgrabungen in Abusir zu verzichten. Daher konnte Borchardt die im Süden des Grabungsareals liegende unfertige Pyramide nicht mehr ausgraben, die er angeschürft und vermutungsweise König Neferefre zugeschrieben hatte. Um 1980 fand eine Expedition der Prager Karls-Universität in den Ruinen des vor der unfertigen Pyramide liegenden Totentempels nicht nur exzellente Beispiele von Statuen des Neferefre, sondern auch zahlreiche Textfragmente aus dem Tempelarchiv dieses Königs.
Vermutlich steht der Beschluß der DOG, die Grabungen in Abusir einzustellen, mit der damals ausgebrochenen Krise um Borchardt in Zusammenhang. Im Frühjahr 1908 wurde er beschuldigt, die Arbeit seiner ausländischen Kollegen in Ägypten auszuspionieren.46 Die DOG fand sich erst zwei Jahre später bereit, ihm erneut eine Grabung in Ägypten anzuvertrauen. Borchardt ließ die Zwischenzeit bis zum Beginn der Grabungen in Amarna nicht ungenutzt verstreichen. «Der Bau» war der erste Band über die Sahure-Grabung, den er 1910 als WVDOG 14 vorlegte. Der zweite Band, «Die Wandreliefs», folgte 1913 als WVDOG 26. Borchardt selbst hat die Reliefs bearbeitet, für die Inschriften war Kurt Sethe verantwortlich. Max Hilzheimer bearbeitete die Reliefdarstellungen der Säugetiere, Otto Heinroth die der Vögel; Ernst Assmann kommentierte die Schiffsdarstellungen.
Mit dem Erscheinen dieser ausführlichen Veröffentlichungen war die Abusir-Unternehmung der DOG erfolgreich abgeschlossen. Offen war noch das Schicksal von Sahures Säulenhalle. Borchardt hatte den Ägyptischen Antikendienst für eine Teilung von Säulen und Architraven zwischen Berlin und Kairo gewinnen können. 1910 sprach Borchardt die Hoffnung aus, eine Hälfte der Säulenhalle bald im Berliner Ägyptischen Museum wiedererrichtet zu sehen. Die Bauteile ruhten aber jahrzehntelang in einem Lager, das im März des Kriegsjahres 1943 bei einem Bombenangriff in Flammen aufging. Erst Ende der 60er Jahre, nach Gründung eines Ägyptischen Museums im damaligen Westberlin, kam es auf diesem Lagerplatz zu Aufräumungsarbeiten und ersten Restaurierungen an den brandgeschädigten Architekturteilen (Abb. 93). Seit Sommer 1989 beherbergt ein Anbau am Ägyptischen Museum in Berlin-Charlottenburg die rekonstruierte halbe Säulenhalle. Im Zuge der Zusammenlegung der im vormals getrennten Berlin existierenden beiden Ägyptischen Museen ist auch eine Umsetzung von Sahures Säulenhalle auf die Museumsinsel geplant.